Die Haselnuss ist nicht schwarzbraun

Nach dem Musikunterricht in der Erfurter Herderschule machte irgendwann ein gewitzter Mitschüler uns darauf aufmerksam, dass man die Verse der DDR-Nationalhymne, deren Text ich noch lernen musste, bevor sie nur noch intoniert wurde, auf die Melodie des Deutschland-Lieds singen könne. „Auferstanden aus Ruinen…“ auf die Melodie des Kaiserquartetts von Josef Haydn. Wir machten uns einen Spaß draus. Von allein mochte er nicht auf die Idee gekommen sein. Mein Vater, Jahrhang 27, erzählte mir, er habe schon „Auf, auf zum Kampf“ zu singen gelernt. Einziger Unterschied: da wo ich sang, … dem Karl Liebknecht, dem haben wir’s geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand“, musste er Bezug auf Adolf Hitler nehmen. So leicht lässt sich der Sinn politischer Lieder wandeln, wenn nur vier Worte ausgetauscht werden. Politisches Moving, sozusagen.

Ohne dass Worte ausgetauscht werden, wandern andere Lieder durch die Zeit. Und die Sicht auf sie wandelt sich mehr oder weniger willkürlich oder je nachdem, wie es gebraucht wird. Zum Beispiel „Der Gott der Eisen wachsen ließ…“. Von Ernst Moritz Arndt in der Zeit der Befreiungskriege gedichtet, wanderte es auch in das Liederbuch der SS. Daran wurde erinnert, als Nordrhein-Westfalens Heimatministerin einen Heimat-Kongress schlecht vorbereiten ließ und von mehr als drei Dutzend eingeladenen Heimat-Botschaftern nur Heino die Gunst der Stunde für PR nutzte und erschien. Nun kann man ja fragen, warum man ihn nicht ließ, wo er saß und darauf wartete, dass er sich nach seiner Rammstein-Persiflage des Liedguts von Helene Fischer oder von Feine Sahne Fischfilet annehmen würde. „Alles auf Rrrrrrrrrausch“, welche Vorstellung.

Nein, Heino musste unbedingt vom Altenteil geholt werden, und keiner aus dem Stab der Ministerin hinderte ihn daran, der sein Album „Die schönsten Heimat- und Vaterlandslieder“ aus den frühen 80er Jahren zu dedizieren. Prompt erinnerten sich Experten für das Liedgut der SS daran, dass einiges, von dem, was auf den LP verewigt war, bereits im Liederbuch der SS stand, mit Hitler und Himmler im Frontispiz. „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“, ein SS-Lied, kritisierte man die Ministerin und den Sänger, den seinerzeit schon Karl-Eduard von Schnitzler im Schwarzen Kanal des DDR-Fernsehens „henkeltöpfisch“ genannt hat. Alles was in dieses Buch gezerrt wurde, ist bäh, so die Botschaft. Heino, bäh, Heimat, bäh, HeimatministerIn, doppelt bäh. Und wenn die so eine Steilvorlage liefern, wer könnte es der politischen Konkurrenz verübeln, die für sich nutzen zu wollen. Was ja zu akzeptieren wäre, wäre die Wahrnehmung nicht politisch und damit selektiv

Denn, wenn das SS-Verdikt über Arndts „Vaterlandslied“ von 1812, gilt, warum darf dann der Schleswig-Holsteiner noch das „Schleswig-Holstein-Lied“ singen, und warum darf der Brandenburger den roten Adler hoch fliegen lassen? Beide Hymnen finden sich auf den Heino-LP wie im SS-Liederbuch. Warum wird dann bei SPD-Parteitagen noch „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ gesungen. Das wurde auch dem SS-Mann zum Singen empfohlen. Steht auf Seite 45. Die Antwort auf diese Fragen scheint doch zu komplex zu sein, als dass man sie im politischen Tagesgeschäft geben könnte. Nebenbei: „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ steht nicht im Liederbuch. Dafür aber „Ade zur guten Nacht“, auf Seite 111.

Der „Lutheranische Mitarbeiter“

Im Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtages zur Sohnemann-Affäre fiel wieder einmal trübes Licht auf das Bildungsministerium. Dessen frühere Chefin von der Linkspartei wies den Verdacht einer uneidlichen Falschaussage von sich, nachdem sie widersprüchliche Angaben zum Datum gemacht hatte, wann sie den Namen des Gymnasiasten erfahren habe, der nach dreimonatigem Auslandsaufenthalt von der Erbringung der Besonderen Leistungsfeststellung befreit worden war. Ihr Rechtsbeistand habe ihr nach Prüfung des Sachverhalts und der einschlägigen Literatur mitgeteilt, dass ein solcher Verdacht erst nach dem Abschluss der Befragung eines Zeugen oder einer Zeugin formuliert werden könne. Ähnlich hatte sich auch der juristische Dienst des Landtags in einem Gutachten zu dem Vorgang geäußert.

Nach dieser Rechtsauffassung könnten ein wichtiger Zeuge oder mehrere Zeugen den Ausschuss über Monate an der Nase herumführen. Gäbe die Ausschussmehrheit ihnen zum letztmöglichen Termin der Beweisaufnahme Gelegenheit, unwahre Aussagen zu korrigieren, sie wären aus dem Schneider. Doch der Ausschuss hätte womöglich aussichtslos ermittelt. Die Untersuchung wäre korrumpiert.

Zeugenaussagen deuteten an, dass in der Leitungsebene unter ihrer Verantwortung als Ministerin wundersame Dinge vor sich gingen. So tauchte erst Monate nach Beginn der Untersuchung ein nur das „braune Blatt“ genanntes Schreiben auf, das nach Zeugenaussage bei einer Besprechung im Büro der Ministerin auf dem Tisch lag und dessen Inhalt vollständig in eine E-Mail einging, mit der nachgeordneten Stellen vorgegeben wurde, was auf dem Zeugnis des Sohnes des Justizministers zu stehen habe. Woher das Papier kam, ist unklar. Es war einfach da und „rutschte“ nach dem Termin beider Ministerin „in eine falsche Mappe“. Der früheren Ministerin war das Blatt im Ausschuss bereits vorgelegt worden. Sie wiederholte, es sei niemals ihre Art gewesen, derartige Schreiben an andere auszuhändigen, ohne dass darauf vermerkt sei, wer das Papier an wen übergeben habe.

Ein Zeuge berichtete von aufgeregten Anrufen eines seiner Mitarbeiters am letzten Sitzungstag vor den Sommerferien des Landtags. Der Mitarbeiter fühlte sich durch Telefonanrufe bedrängt, seine juristischen Bemerkungen zum Vorgang zu korrigieren. Weil er dem Zeugen zufolge gesagt habe, „…ich kann nicht anders“, wurde er kurzerhand der „Lutheranische Mitarbeiter“ genannt. Angerufen, so der Mitarbeiter, habe ihn ein Rechtsanwalt, der in einer anderen Sache das Ministerium beriet. Im Landtag war der zu dem Zeitpunkt mit Vertretern des Bildungsministeriums zu Gange. In seiner Befragung hatte der Anwalt dem Ausschuss hingegen mitgeteilt, ihm sei der Sachverhalt bei dieser Gelegenheit nur mündlich vorgetragen worden. Das Ministerium hatte augenscheinlich in der Affäre um den möglichen Amtsmissbrauch des grünen Justizministers auf juristischen Beifang gehofft. Doch als Jurist, so seine damalige Aussage, habe der Rechtsanwalt aber dazu nichts sagen wollen. Er sei nicht anwaltlich tätig geworden. Die frühere Ministerin erklärte vor dem Untersuchungausschuss dazu, sie habe den Anwalt damit nicht beauftragt und könne sich auch nicht erklären, wer ihn mit den Telefonaten beauftragt haben könnte. So sieht wohl drunter und drüber aus.

Neben dem Grundgesetz

„Eine Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergeift“, kann man in dessen 200. Geburtsjahr ruhig einmal Karl Marx zitieren. Um gleich nachzuschieben: und ein Tweet kann schon mal den Thüringer Landtag beschäftigen, wenn es von einem Kabinettsmitglied stammt und noch dazu fragwürdig ist.

Wie der der Thüringer Gesundheitsministerin. „Die Abschaffung der § 218 bis § 219b Strafgesetzbuch ist längst überfällig“, twitterte sie am Weltfrauenkampftag. Eine entsprechende Pressemitteilung findet sich auch auf der Internetseite ihres Ministeriums. Die Linken-Politikerin prescht so den Frauen weit voraus, die die Idee ergriffen hat, der Paragraph 219a müsse gestrichen werden. Der stellt die Werbung für Abtreibung unter Strafe. Jahrzehntelang schlummerte er unbeachtet im Strafgesetzbuch. Etwa so, wie der Paragraph gegen Majestätsbeleidigung. Vor Kurzem wurde eine Frauenärztin aufgrund des 219a zu einer Geldstrafe verurteilt. Nun kann man darüber streiten, ob bei dem Hinweis „Ich nehme Abtreibungen vor“ der werbliche Charakter überwiegt – verboten ist unter anderem, „seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise“ für Abtreibungen Reklame zu machen – oder ob der informative Aspekt überwiegt. Auf Informationen über Abtreibungen haben Frauen aufgrund des Schwangerschaftskonfliktgesetzes einen Anspruch. Mehr noch, sie sind vorgeschrieben. Frauen, die der Ansicht sind, der 219a gehöre ersatzlos gestrichen, sind für ihre Überzeugung auf die Straße gegangen. Manchmal wurde in Tweets auch schon mal wegen eines Zahlendrehers die Streichung des Paragraphen 129a StGB gefordert. Der aber stellt die Bildung terroristischer Vereinigungen unter Strafe.

Aber die Linken-Gesundheitsministerin fordert, die Paragraphen vom 218 bis 219b abzuschaffen. Sie wirft damit auch grundsätzliche Fragen auf. Aus der CDU-Fraktion wird in einer mündlichen Anfrage im Landtag Auskunft dazu begehrt, wie die Landesregierung denn über die Wortmeldung des Kabinettmitglieds denke. Die Landesregierung wird in der Fragestunde dazu Stellung nehmen müssen. Es wird die bei solchen Ereignissen gewohnte parlamentarische Langeweile herrschen. Die Fragesteller werden im Plenarsaal sitzen und auf der Regierungsbank die für die Beantwortung der bislang angesetzten fünf mündlichen Anfragen zuständigen Minister oder deren Staatssekretäre oder Staatsekretärin. Vielleicht antwortet auf die Frage auf Drucksache 6/5393 der Staatskanzleichef wegen der grundsätzlichen Bedeutung selbst. Vielleicht aber antwortet auch, die Bedeutung etwas niedriger hängend, die Gesundheitsstaatssekretärin. Und die, wie der Staatskanzleichef müsste sie die Wortmeldung der Ministerin als „Einzelmeinung“ charakterisieren – eine höfliche Umschreibung für eine entschiedene Distanzierung. Keiner von beiden könnte es zur Politik der Landesregierung erklären, ungeborenes Leben rechtlos zu stellen, wie es die Ministerin unausgesprochen fordert. Es reicht, wenn eine Ministerin neben dem Grundgesetz steht. Das verpflichtet den Staat, auch ungeborenes Leben zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht entschied 1993, auch dem ungeborenen Leben komme Menschenwürde zu. Diese liege „im Dasein um seiner selbst willen. Es zu achten und zu schützen bedingt, daß die Rechtsordnung die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleistet“. Zugleich wurde dem Gesetzgeber auch die Möglichkeit eröffnet, das Recht des Kindes gegen die Rechte der Schwangeren abzuwägen. Er tat das, indem er Schwangerschaftsabbrüche für die gesamte Zeit der Schwangerschaft für Unrecht erklärte, unter eng begrenzten Bedingungen zugleich aber straffrei stellte.

Seit 1993 ist das Problemfeld ausgeurteilt. In der Folge wurde der Abtreibungsparagraph überarbeitet. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag steht eine neuerliche, im Sinne der Frauen, die eine Schwangerschaft nicht austragen wollen, großzügigere Änderung in weiter Ferne. Und selbst wenn sie irgendwann erreicht würde, sie müsste der erneuten Prüfung durch das Bundesverfasssungsgericht standhalten. Vor Jahren erinnerte der frühere Verfassungsrichter Wolfgang Böckenförde, der 1993 das Urteil mitverfasst hat, daran: „Das Bewusstsein für den Schutz des ungeborenen Lebens bleibt nur lebendig, wenn es immer wieder ins Gespräch gebracht wird“. Die Linke-Politikerin hat darauf hingewiesen. Ihre Absicht aber war es nicht

Nichts drängt

Am 25. Januar erstarb die Online-Debatte zum „Gesetzentwurf der Fraktionen DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Fünften Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaates Thüringen (Gesetz zum weiteren Ausbau der direkten Demokratie auf Landesebene)“ auf der einschlägigen Internetseite des Thüringer Landtags. Von diesem Tag datiert der jüngste Debattenbeitrag. Es war ein leiser Tod. Gerade einmal 14 Wortmeldungen zählt derzeit die Automatik. Es sind Doppelt- und Dreifachzählungen dabei; mancher Teilnehmer äußerte sich zu mehreren Fragen. De facto beteiligten sich fünf Leute. Das kann man ein überschaubares Interesse an einem weiteren wichtigen rot-rot-grünen Reformvorhaben nennen. Und das bei einem, wie es gern genannt wird, niedrigschwelligen Angebot. Der Wert für die parlamentarische Auseinandersetzung ist fraglich. Vor allem drängt der Stand der Debatte nicht zur Änderung der Landesverfassung.

Die müsste für die Abschaffung des Finanzvorbehaltes gegen Volksbegehren und auch für die Absenkung des aktiven Wahlalters zum Landtag auf 16 Jahre geändert werden. Und auch für die Absenkung der Quoren für Volksbegehren. Was eine 2-Drittel-Mehrheit voraussetzt. Also bräuchte R2G die Unterstützung der CDU. Doch die hat sie nicht. Nun kann man der Koalition nicht unterstellen, dass sie sich nicht darum mühen würde. Sie ätzt „Dagegenpartei“ in Richtung der Oppositionsfraktion und appelliert. Modernisierung, ruft R2G. Doch sind ihre Argumente nicht dazu geeignet. In der Ersten Lesung zum Gesetzentwurf in der 103. Sitzung des Landtages wurde aus der Linken-Fraktion auf ein Urteil des Landesverfassungsgerichtes von 2001 verwiesen, das sich auch des Wechselspiels zwischen Volksbegehren und Finanzvorbehalt annahm. Man bescheinigte in der Lesung dem Gericht eine „strenge und konservative Auslegung des Finanzvorbehalts“.

R2G meint augenscheinlich, sich mit dem Vorhalt von dem Urteil distanzieren zu müssen, weil in den Leitsätzen ausdrücklich formuliert wird: „Die Träger eines Volksbegehrens sind nicht Repräsentanten des Volks; sie bringen mit der Gesetzgebungsinitiative jedoch Staatsgewalt zur Geltung“. Darüberhinaus wird festgestellt: „Das Budgetrecht eines gewählten Parlaments ist wesentlicher Bestandteil des Systems eines gewaltengeteilten, demokratischen Verfassungsstaats und gehört damit zum Schutzbereich des Art. 83 Abs. 3 ThürVerf. Unzulässig ist eine vom Volksbegehren vorgesehene Verfassungsänderung, wenn sie die Volksgesetzgebung auch für solche Regelungen zuläßt, die gewichtige staatliche Einnahmen und Ausgaben unmittelbar oder mittelbar auslösen und den im umfassenden Sinn verstandenen Landeshaushalt wesentlich beeinflussen.“

Die Richter verwarfen seinerzeit das Vorhaben des Volksbegehrens „Mehr Demokratie“, das Finanztabu für Volksbegehren aufzuweichen. Der Gesetzentwurf, über den zu urteilen war, stehe Bestimmungen der Landesverfassung „auch insofern entgegen, als er mit dem relativierten Budgetrecht des Landestages das Demokratieprinzip modifiziert und damit unveränderbare Grundsätze“ berühre. Die Ausschlussklausel der Landesverfassung beziehe „sich nicht als rein deklaratorische Bestimmung nur auf Volksbegehren zum „Haushaltsgesetz“, mit dem der „Haushaltsplan“ festgestellt wird, sondern sie wirke mit ihrem Verbot auch im materiell-rechtlichen Sinne auf die „Gesamtheit der Einnahmen und Ausgaben des Staates“ ein. Sie schließe also eine entsprechende Volksgesetzgebung aus. Die Grenze für Volksbegehren, zogen die Verfassungsrichter wie folgt: nur Volksbegehren seien „zulässig, die … nicht zu Ausgaben führen dürfen, die die Handlungsspielräume des Parlaments unangemessen einschränken oder die den Landtag zu nachhaltigen Korrekturen des geltenden Rechts veranlassen. Anders als in der Problembeschreibung zum R2G-Gesetzentwurf behauptet, legt das Thüringer Verfassungsgericht den Finanzvorbehalt eben nicht so aus, dass „jegliche Volksgesetzgebung mit finanziellen Auswirkungen unzulässig“ sei. Es beschränkt die Auswirkungen durch das Wort „unwesentlich“. Wie viele Nullen vor dem Komma nach einer Zahl zwischen 1 und 9 die Differenz zwischen „unwesentlichen finanziellen Auswirkungen“ und „finanziellen Auswirkungen“ ausmachen dürfen, muss der Landtag festlegen können. Das hätte er nach Auffassung des Gerichtes nicht mehr gekonnt, wenn der Finanzvorbehalt in der damals beabsichtigten Form gefallen wäre. Der Fingerzeig auf die Gegenwart ist deutlich.

Ob der Verfassungsgerichtshof dem parlamentarischen Gesetzgeber zubilligen würde, was er dem Volksgesetzgeber vor 17 Jahren verwehrt hat, wird nicht in Erfahrung zu bringen sein.